Mit einleitenden Impulsen von Dr. Géza Andreas von Geyr, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Russischen Föderation, sowie von Matthias Platzeck, Ministerpräsident a.D.
„Dem deutschen Bundestag war weder der 8. Mai eine Erwähnung wert, noch wird es der 22. Juni sein.“ schrieb ein deutscher Zuschauer beim Moskauer Gespräch ONLINE am 12. Mai in den Chat. Eine andere Deutsche pflichtete bei: „Dabei sollte für die Abgeordneten des DB am 08. Mai der Besuch des Deutsch-Russischen Museums in Karlshorst ein Muss! sein: so eine Art ‚Weiterbildungstag’“. „Es ist eine große Leistung des russischen Volkes, dass Versöhnung so schnell und umfangreich stattgefunden hat.“, ergänzte ein Dritter.
Nicht nur im Chat war der Austausch sehr emotionsgeladen zu dem alles andere als leichten Thema des Abends „Was geschah vor 80 Jahren? – Erinnerung und Erinnern als Zukunftsgestaltung in Europa“. 260 Zuschauer*innen verfolgten sehr aufmerksam, wie die Literaturnobelpreisträgerin Svetlana Alexijewitsch zusammen mit drei Historikern sich bemühte, ihm aus den verschiedensten Blickwinkeln gerecht zu werden. „Wird das zukünftig ein Krieg wie jeder andere sein? Es gibt ja tausende Kriege, und niemand erinnert sich mehr daran. Das ist oft nur noch eine Zeile im Lehrbuch.“, lautete eine zentrale Frage. Ein guter Weg, Erinnerung zu bewahren, sei die Wahrheit und eben keine Wahrheit, die in irgendwelchen politischen Agitationen versteckt sei. Dieser Aussage Alexijewitschs konnte wohl das gesamte Panel zustimmen. Auch, dass mit dem Tod der letzten Augenzeugen die verschiedenen Geschichtsschreibungen durch Schwerpunktsetzungen und Nuancierungen noch anfälliger werden für zielgerichtete und instrumentalisierte Deutungen, war Konsens. Doch wie Deutsche und Russen gemeinsam die Erinnerung an „die Wahrheit“ sicherstellen können, blieb offen.
Angesichts gesetzgeberischer Versuche einzelner Länder, die historische Wahrheit zu bewahren, fragte Prof. Dr. Oleg Budnitskii (Direktor des Internationalen Zentrums zur Geschichte und Soziologie des Zweiten Weltkrieges und seiner Konsequenzen, HSE Moskau): „Wo ist da denn das Maß, an dem man Wahrheit messen kann? Wer sagt denn, was wahr ist? Wo gibt es denn da irgendeine Normung, was richtig oder falsch ist?“ „Für mich ist offensichtlich, dass wir teilweise versuchen, uns vor der Vergangenheit zu verstecken, oder dass wir versuchen, das zu restaurieren, was eigentlich nicht mehr restauriert werden kann oder muss.“, betonte Alexijewitsch.
Prof. Dr. Alexej Gromyko (Direktor am Europa-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften Moskau) appellierte: „Die Geschichte eines jeden Krieges darf für das Massenbewußtsein kein Gegenstand sein, mit dem man Rechnungen begleicht, und muss eine Geschichte der Versöhnung sein.“ Die Geschichte der Versöhnung zwischen Russland und Deutschland sei genauso großartig wie die Geschichte der Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland. Die historische Erinnerung dürfe in den kommenden Jahr nicht zum Zankapfel werden.
Sein deutscher Kollege Prof. Dr. Jörg Echternkamp (Wiss. Direktor am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr) warnte deshalb vor einer Re-Nationalisierung der Erinnerung und warb für ein multiperspektivisches Erinnern. Es solle im Idealfall ein vielfältiges kollektive Gedächtnis transportiert werden, dass die unterschiedlichen Perspektiven zur Kenntnis nimmt. Dadurch werde jeder Generation ermöglicht, darauf einzugehen und über das gegenseitige Verstehen den Weg für Versöhnung zu ebnen. Dabei sollten Empathie in der Würdigung der Erinnerungen und eine rational-kritische Auseinandersetzung mit historischen Quellen Hand in Hand gehen.